The Lean Startup von Eric Ries – Klassiker auflegen!
Ries, Eric (2011). The Lean Startup. How Today’s Entrepeneurs Use Continuous Innovation to Create Radically Successful Businesses. Penguin Random House LLC. 16,99€.
Ries, Eric (2024). Lean Startup. Schnell, risikolos und erfolgreich Unternehmen gründen. Redline Verlag. 19,99€.
Wenn ich gefragt werde, welches das beste Buch über Produktmanagement ist, ist es in meinen Augen fraglos ‘The Lean Startup’ von Eric Ries. Dieses 2011 zuerst erschienene Werk erklärt mit messerscharfer Klarheit auf einer hohen und doch greifbaren Flughöhe, worauf es in innovativer Produktarbeit ankommt. Ich haue mal einen raus: Alle anderen relevanten Bücher über operative Produktarbeit – auch ‘Inspired’ von Marty Cagan, ‘Lean UX’ von Jeff Gothelf und Josh Seiden, ‘Measure What Matters’ von John Doerr, ‘Continuous Discovery Habits’ von Teresa Torres – sie alle beleuchten einzelne Aspekte des Handwerks. The Lean Startup jedoch nimmt das große Ganze in den Fokus und schafft damit eine dringend nötige Orientierung im Dschungel der Methoden.
Entsprechend dieser Überzeugung, dass Eric Ries das Fundament besser beschreibt als jeder andere, nutze ich das Paradigma in meiner Arbeit häufig und praktisch, sei es beratend, sei es in Hands-on Product Work für Kunden (von denen viele keine Startups sind) oder im eigenen Bootstrapping.
Aber ich möchte jetzt nicht einfach loben, ohne zu erklären warum. Also wieso halte ich das Buch für so fundamental wichtig und worum geht es im Kern eigentlich?
‘The Lean Startup' – Einfach dargelegt, worauf es ankommt
Der Grundgedanke ist ganz einfach: Wann auch immer innovative Dinge gebaut werden, egal ob im Startup oder im Konzern, gibt es ein gewisses Maximum an Ressourcen, die in die Hand genommen werden können, um die Idee zum Fliegen zu bringen. Diese Menge, auch Runway genannt, kann groß oder weniger groß ausfallen. Das kann bedeuten, dass man zu zweit in drei Monaten etwas Valides in die Welt stellen muss, oder bedeuten, dass man 100 Leute für zwei Jahre an einem Thema arbeiten lassen kann. In jedem Fall jedoch sind die Mittel, die man hat, begrenzt. Das Ziel eines jeden neuen Produktes ist es, innerhalb dieser begrenzten Zeit genug vom Richtigen entwickelt zu haben, damit sich die Dienstleistung von selbst trägt, und um dieses Ziel zu erreichen, ist es essenziell, so viel wie möglich darüber zu lernen, welche Aspekte am Markt funktionieren und welche nicht.
Für die Startup-Phase eines Produkts (nicht eines Unternehmens) steht damit im ‘The Lean Startup’-Paradigma nicht im Zentrum, ob Profite erzielt werden, sondern ob das Produkt besser geworden ist — sich in anderen Worten näher an einen Product-Market-Fit bewegt hat. Erfolgreiche Innovationen finden diesen Punkt und erzielen danach ihre Umsätze, unerfolgreichen Innovationen hingegen wird der Hahn abgedreht, bevor sie sich selbst tragen.
Um genau dieses Lernen in den Vordergrund zu stellen, zeichnet Ries das Bild eines ‘Build – Measure – Learn’-Kreislaufs, den es so schnell und damit so häufig zu durchlaufen gilt, wie es Ressourcen, Kreativität und Fähigkeiten zulassen.
Das Lean-Startup-Modell – Die Feedbackschleife in einfachen Worten erklärt
Schritt 1 – Ideen, die zu MVPs werden wollen
Beginnen wir in der Beschreibung mit dem, was den meisten von uns am einfachsten fällt und womit die Reise der Innovation ja in der Tat häufig beginnt: Ideen haben. Im Lean-Startup-Modell ist der Gedanke, dass man nicht alles auf eine Karte setzt und mit dem Bauen eines fertigen Produktes beginnt. Im Gegenteil, es gilt zu analysieren, welche wichtigen Hypothesen hinter der Idee liegen und zu erarbeiten, wie kleine Experimente aussehen können, die diese Hypothesen validieren und falsifizieren können. Diese Experimente werden dann gebaut und die Ergebnisse informieren, ob überhaupt Potenzial da ist und wenn ja, wie sich die Dienstleistung im Detail gestaltet. Es braucht also ein Minimum Viable Product – das kleinstmögliche Produkt, an dem wir lernen können, ob unsere Annahmen stimmen.
Ein fiktives Beispiel: Sagen wir, jemand hat die Idee, einen superschnellen Lieferservice für Kleidung zu gestalten – ein Gorillas für Klamotten sozusagen, um eine Nische zwischen Otto, Zalando und AboutYou für diejenigen zu besetzen, die spontan ein Outfit für den Abend brauchen, aber nicht shoppen gehen wollen. Was müsste dafür stimmen, damit das funktionieren kann? Ein Vorschlag für die Nachfrageseite dieser Idee: Ein relevanter Bedarf nach der Lieferung von Kleidung innerhalb von Minuten muss überhaupt gegeben sein. Wie könnte das in unserem Beispiel aussehen, wenn wir so schnell wie möglich handeln wollen? Schnell umgesetzt könnte man Anzeigen auf Social-Media-Portalen schalten, die auf eine Website lenken, auf der man dann die eigene Adresse eintragen kann, aber stets die Antwort bekommt „Der Service ist in Deiner Region leider noch nicht verfügbar". Wenn unsere Hypothese für die Nachfrage der superschnellen Kleidungslieferung stimmt, müssten die Anzeigen ja geklickt werden. Wir haben also ein MVP gefunden, das wir in einem Tag alleine umsetzen können und das uns aber trotzdem lehren kann, ob wir auf dem richtigen Weg sind.
Übrigens: Den Begriff MVP hat Eric Ries zwar nicht erfunden – diese Ehre kommt Frank Robinson zuteil – er hat ihn jedoch populär gemacht.
Schritt 2 – Relevante Daten messen
Im zweiten Schritt schauen wir uns an, welche Daten unser MVP generiert, und analysieren diese auf möglichst robuste Art und Weise mit dem Ziel, dass wir später neue Einsichten generieren.
Nehmen wir wieder unser Beispiel der Nachfrageseite des superschnellen Lieferservices für Kleidung. Wir haben also Anzeigen auf Social Media geschaltet, die zu einer Landing Page führen, auf der man seine Adresse eintippen kann. Wir haben aber noch keinen wirklichen Lieferservice gebaut, da wir ja zunächst nur prüfen wollen, ob wirklich eine Nachfrage nach unserer Dienstleistung besteht.
Dieses MVP wird uns viele Daten generieren: Beispielsweise sehen wir in Form der Conversion-Rates für unsere Anzeigen, wie gefragt unser Angebot ist. Wir lernen nebenbei aber auch, wie teuer Performance-Marketing im relevanten Segment ist, was andere Aspekte des Unternehmens beeinflusst. Da wir die Klickenden auf unserer Homepage dazu auffordern, ihre Adresse einzugeben, lernen wir aber ebenfalls, wo die Nachfrage besonders hoch ist, sofern sie denn überhaupt besteht – in der Vorstadt? In der Innenstadt?
Durch den Einsatz unseres MVPs stehen uns also mehr Informationen zur Verfügung als zu dem Zeitpunkt, als wir nur eine Idee hatten.
Schritt 3 – Aus Daten lernen, um neue Ideen zu generieren
Die Daten, die unser MVP erhebt, können wir nun nutzen, um wieder neue, bessere Ideen zu generieren und belastbarere Fakten zu gewinnen, die informieren, wie sich unsere initiale Idee verändern muss, um wirklich am Markt angenommen zu werden. Das ist wichtig, denn so gerne die meisten von uns sich auch in die eigenen Ideen verlieben: Die Realität sieht leider häufig so aus, dass die Welt nicht auf uns gewartet hat – anders lässt es sich nicht erklären, dass je nach Datenquelle 80% bis 95% aller Startups innerhalb der ersten drei Jahre nach Gründung scheitern und wir ähnliche Quoten auch für die Einführung neuer Features für bestehende Produkte sehen.
Wie reduzieren wir dieses Risiko also mittels Lean-Startup-Methodologie und besprochen an unserem Beispiel? Wir schauen, was uns die erhobenen Daten beibringen. Nehmen wir einmal an, wir sehen, dass in Hamburg und Berlin niemand klickt, aber Herford und Bielefeld vielversprechend aussehen? Was könnte das bedeuten? Mit einem offenen und ehrlichen Blick könnte das mehrere neue Hypothesen aufwerfen: Ist unser Service nur in kleineren Städten relevant, da dort weniger Einzelhandel ist? Wenn das so ist – ist das Wertversprechen der Geschwindigkeit in der Lieferung dann zentral, oder haben wir hier lediglich eine Nische entdeckt, in welcher die großen Versandhäuser nicht gut werben? Oder hat unsere Anzeige modisch den Stil der Großstädte verfehlt und wenn ja, was heißt das für unser Inventar? Viele neue Fragen werden aufgeworfen, die dann automatisch wieder neue, besser validierte Ideen generieren, womit der Kreislauf wieder mit Schritt 1 von vorne beginnt.
Fazit – Warum ist Lean Startup das erste Prinzip des digitalen Produktmanagements?
Im Einführen von neuen digitalen Services geht es immer um zwei große Faktoren: Einerseits wollen wir Risiken vermeiden und managen. Konkret und mit dem Fokus von Marty Cagan gesprochen wollen wir sicherstellen, dass unsere Produkte einen Wert haben (Value Risk), verstanden werden (Usability Risk), umsetzbar sind (Feasibility Risk) und für das Business funktionieren (Viability Risk). Wir wollen aber gleichzeitig auch sicherstellen, dass wir nicht zu defensiv spielen und nur über Risiken nachdenken, denn Innovation braucht Ideenfindung – braucht das ‘an die Wand werfen’ neuer Gedanken.
Wieso ist ‘The Lean Startup’ zeitlos?
Ohne Schnörkel und Details, ohne eine Flut an Buzzwords und Referenzen auf andere Konzepte beschreibt ‘The Lean Startup’ wie kein anderes Modell, was unabhängig vom Kontext ganz konkret für sämtliche Fachbereiche in einem Unternehmen, welches neue Dinge erfindet, wichtig ist: Die schnelle Iteration hin zum Product-Market-Fit mit dem Mittel des schnellen Lernens.
Diese allgemeine, explizit an die Wissenschaftsphilosophie von Karl Popper angelehnte Idee der Lean-Startup-Methodologie ist wegen ihrer Allgemeinheit so brauchbar. Während andere Bücher auf den Zeitgeist Bezug nehmen und beispielsweise erklären, wie man Wasserfallprojekte vermeidet, disempowerte EntwicklerInnen empowert oder One-Shot-Discovery verstetigt, beschreibt Ries hier etwas, das unabhängig von konkreten technischen Möglichkeiten, Entwicklungstools oder methodischer Reife eines Teams richtig ist: Es gilt zu lernen, was funktioniert — so schnell wie möglich, denn es liegt in der Natur der Erfindung von etwas Neuem, dass wir vor der Umsetzung noch nicht wissen, wie es funktioniert, und kein Team hat ewig Zeit, Product-Market-Fit zu finden.
Also: Lesen!
Aus der Sicht des klaren Denkens auf digitales Produktmanagement lege ich ‘The Lean Startup’ also jedem und jeder ans Herz. Das alleine reicht für eine Empfehlung. Ich möchte aber einen anderen Aspekt zum Abschluss ebenfalls beleuchten.
‘The Lean Startup’ erinnert uns alle daran, bescheiden zu bleiben und stellt heraus, dass Produktarbeit ein Handwerk ist. In einer Zeit, in der wir immer wieder Erzählungen von inspirierenden GründerInnen hören, die mit ihrer Idee die Welt erobert haben, holt uns Ries auf den Boden der Tatsachen zurück. Niemand hat ein Ideenproblem und jedes Team ist nur so gut, wie es gemeinsam lernt. Lasst uns das, besonders in politisch wilden Zeiten für unsere Szene, nicht vergessen.